Ich habe mir in letzter Zeit einmal ein paar Gedanken über "Götter" und ähnliche, meist personal gedachte, mythische Wesenheiten gemacht, nicht zuletzt, da mit meinem Interesse am Neopaganismus auch ein Interesse daran erwachte, wie weit sich wohl der bekannte monotheistische Gottesbegriff mit der Vorstellung von Göttern in polytheistischen Kulturen deckt oder eben auch nicht deckt.
Als christlich sozialisierter Mensch neigt man nämlich doch recht vorschnell dazu, die Götter der sogenannten heidnischen Kulturen als so eine Art "Jehova im 12er-Pack" zu betrachten oder doch zumindest als einen "Jehova in seine einzelnen Apekte und Bestandteile zerlegt". Dass dem natürlich nicht so ist, dass konnten mir bereits während meiner Schulzeit die verschiedensten Geschichtslehrer "versichern", die mit wissensstrenger Miene darüber fabulierten, wie unperfekt und vermenschlicht doch die alten paganen Mythen ihre Gottheiten und deren umtriebigen Lebenswandel darstellten - eine Beschreibung, in der freilich stets indirekt die christlich-kulturchauvinistische "Mein Gott ist größer/perfekter/allmächtiger als Deiner"-Haltung mitschwang oder (als Variation auf dieses Thema) auch die aufgeklärt-kulturchauvinistische Sichtweise, nach der die dummen, unwissenden Heidenvölker mit ihren "Göttern" lediglich Naturphänomene personifizierten, die der erleuchtete Positivist des modernen Abendlandes viel besser mit seinen materialistischen Begrifflichkeiten erklären könne.
Es war erst viel später, nämlich beim Schreiben des Beitrags
Agnostic Polytheism and the nature of the gods in der englischen Version meines Blogs, dass mich der folgende Geistesblitz traf:
Es gibt in polytheistischen Kulturen kein Konzept von Außerweltlichkeit, das sich auch nur ansatzweise mit der strikten und totalen Transzendenz des Schöpfergottes der abrahamitischen Religionen vergleichen ließe!Während der personale Gott der Bibel nämlich zeitlos, in einem anfangs- und endlosen Zustand, bereits vor der Schöpfung des Universums existierte, die Welt ja sogar erst aus eigener Kraft, creatio ex nihilo, aus dem Nichts heraus erschuf und somit logischerweise auch immer unabhängig vom Weltgefüge ist und bleibt, so sind die Götter in sämtlichen mir bekannten heidnischen Mythen (sowohl nordeuropäischer wie auch antik-mediterraner Prägung) unabtrennbare Bestandteile des Kosmos.
Es gibt sprichwörtlich
keinen einzigen dem Autor bekannten heidnischen Schöpfungsmythos, der etwa mit den Worten beginnen würde "Und am Anfang waren die Götter und die Götter erschufen das Universum". Ob wir uns nun das polytheistische Zentral- und Nordeuropa anschauen, die alten Griechen und Römer betrachten oder uns gar den antiken Ägyptern zuwenden: sämtliche Mythen der vorchristlichen Geschichte, die eine Kosmogonie, also eine Rede von den ersten Dingen, von der Entstehung des Universums enthalten, beginnen mit einer Beschreibung von Prozessen, von unpersönlichen Prozessen, die zum Entstehen der uns bekannten Welt führen und
nicht mit einem wie auch immer gearteten präexistenten Schöpferwesen, welches die Welt mit seinen magischen Superkräften aus dem Nichts herbeizaubert.
So finden wir in der
Völuspa die Beschreibung von Ginnungagap, dem großen Schlund, der uranfänglichen Leere, an deren Ufern
Muspelheim und
Niflheim liegen, das Reich des Feuers und das Reich des Eises. Diese Elemente reagieren nun miteinander, die Feuer von
Muspelheim schmelzen das Eis von
Niflheim und die ersten Wesen Ymir und Audhumbla entstehen.
Bei den antiken Griechen hingegen gibt es die Erzählung vom Chaos, vom undifferenzierten Einen, welches bereits vor allen manifesten Dingen existierte und aus welchem sich Himmel und Erde, personifiziert als Ouranos und Gaia, herausscheiden, die nun wiederum eine richtig geile, lüsterne Zeit miteinander verbringen und weitere Wesen und Dinge in die junge Welt setzen.
Von den alten Ägyptern ist mir ein Schöpfungsmythos bekannt, nach dem alles weltliche Sein seinen Anfang in einer Art schlammigem Hügel fand, welcher sich als Insel aus den uranfänglichen Wassern, also einer Art von Urozean, heraustürmte.
In allen diesen Mythen finden wir als gemeinsamen roten Faden eine prozesshafte Abfolge von Emanationen, die mit unpersönlichen (oder vielleicht besser "überpersönlichen") Dingen beginnt, während Persönlichkeit und Wesenhaftigkeit immer erst später auf Plan treten. Daraus ergibt sich natürlich automatisch, dass personale Wesen, (einschließlich göttlicher Wesen!!!), immer zuallererst integrale und unabtrennbare Bestandteile des Weltgefüges sind und keineswegs unabhängig und abgetrennt von diesem existieren.
Diese Innerweltlichkeit des heidnischen Gottesbegriffes halte ich für absolut essenziell und sehe in ihr den vielleicht wichtigsten und folgenreichsten Unterschied zum transzendenten Gottesbild des biblischen Monotheismus. Auch vermute ich, dass diese integrale Zugehörigkeit polytheistischer Gottheiten zum Kosmos einer Hauptgründe für die vermeintlich so fehlerbehaftete und unperfekte Darstellung von Göttern in vorchristlichen Mythen ist. Vielleicht sollte man hier statt von "Unperfektheit" besser von "Ambivalenz" sprechen. Eine Ambivalenz, die daher rührt, dass die Götter eben Bestandteile dieser zutiefst ambivalenten Welt sind, in der Leben und Tod, Schöpfung und Vernichtung, Schönheit und Schrecken oft nahtlos Hand in Hand gehen, wenn sie sich nicht gar bei näherer Untersuchung als zwei Seiten ein und derselben Medaille entpuppen.
Inwiefern sich diese Immanenz des heidnischen Götterbildes tatsächlich auf das Alltagsleben polytheistischer Menschen auswirkt, inwieweit es die Art und Weise beeinflusst, mit der sich Heidenmenschen mit ihrer Umwelt in Bezug setzen, vermag ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen, zumal ich mich aufgrund meines eher nondualistisch geprägten biographischen Backgrounds ohnehin jahrelang mit der Vorstellung von "Göttern" gleich welcher Art sehr schwer getan habe.
Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist meiner Ansicht nach allerdings eines der spannendsten Unterfangen, die die Beschäftigung mit Heidentum hier und heute zu bieten hat.